In der vorletzten brandeins (Schwerpunkt Kreativität) gab es einen lesenswerten Artikel von Wolf Lotter dazu, wie die traditionellen engen Organisations- und Kontrollstrukturen (personifiziert durch die Gehemmten) keinen Platz für die Entfaltung von Kreativität lassen (denn die ist ein zartes Pflänzchen). Kreativität aber brauchen wir als Wirtschaftsfaktor, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können.
Ich glaube, jeder von uns hat schonmal das Gefühlt gehabt: wir werden ständig bei der Arbeit gestört, und die anderen hemmen uns bei der Umsetzung unserer guten Ideen, weil sie uns nicht verstehen oder zu langsam sind, und lieber den bewährten Kram weitertreiben. Also sind wir alle Gestörte, und alle anderen (d.h. ebenfalls wir alle) sind Gehemmte. Das nimmt schonmal das Gewicht aus dieser Dichotomie.
Nun kann man sich auch als Gestörter mal fragen, ob es sich gerade lohnt, sich von einem neuen Impuls von aussen aus der Bahn bringen zu lassen; ob man wirklich schneller als die anderen ist (auf einer linearen Bahn gedacht), oder ob man gerade auf einem Vektor davontrudelt, dem die anderen aus gutem Grund nicht folgen wollen. Und ob der Verständlichkeit vielleicht eine bessere und geduldigere, auf den anderen eingehende Kommunikation zugute käme. Und ob das, was da als Unverständnis wahrgenommen wird, nicht einfach ein anderer Standpunkt ist, den man gerade nicht hören möchte. Wirklich gute Ideen bleiben auch mit Bodenkontakt noch gute Ideen.
Der Artikel stellt solche Fragen nicht – es geht gerade darum, die Hürden zu senken, mehr Brainstorming zu erlauben, um den output zu erhöhen.
Sehr gefiel mir an dem Artikel der Appell zu Offenheit für neue Ansätze, und Vertrauen – Leute machen lassen, auch wenn man nicht 100% versteht, was abgeht, oder sicher sein kann, dass es irgendwohin führt. Nach welchen Kriterien man nun sein Vertrauen (und damit sein Geld) verteilen soll bleibt leider offen. Vielleicht ist gemeint: allgemein mehr Mut, mehr wagen, die Temperatur hochdrehen, mehr schöpferische Zerstörung? Lösungen zulassen, die den engen Rahmen sprengen, solange sie dem größeren Rahmen zuträglich sind?
Ziemlich offen bleibt auch das Problem der Koordination – es geht immer darum, dass “jemand ein Problem weitgehend eigenständig, neu lösen” kann, aber wer zerlegt denn die Probleme in solche handlichen Häppchen, die immernoch genug Raum für eigenständige Lösungen bieten? Rituale (man denke an Scrum’s tägliche 15-minute stand up meeting) sind bekanntlich ein wirksames Mittel zur Koordination und zur Bildung von Gemeinschaften, in dem Artikel werden Rituale aber als Symptom des Gehemmtseins gehandelt.
Genauso beiseitegewischt wird die Handarbeit, die der Autor offenbar unterschätzt. Ja, bei der Handarbeit bleibt ein physikalisches Ergebnis, das selbst dem Gehemmtesten als sichtbares Ergebnis dient. Über die Qualität sagt das noch lange nichts – das Produkt eines Spitzenkochs und das des Curry-Grills an der Ecke wiegen etwa gleich viel, genauso wie der Bericht eines Unternehmensberater äußerlich nicht zu unterscheiden ist von 100 Seiten voll mit “All work and no play makes Jack a dull boy”. Man kann sogar argumentieren, dass Handarbeit einen ganzheitlicheren Einsatz des Menschen erlaubt als die Fingerspitzen-Massage, die wir täglich an der Tastatur betreiben, und damit auch mehr Möglichkeiten bietet, Nuancen abzubilden und differenzierte Lösungen zu finden.
Und – wie ein Leserbrief in der nächsten Ausgabe anmerkt – genauso wie die kreative Freiheit bleibt in der geschilderten “Gestörten” Utopie das komplette Risiko bei dem oder der Einzelnen hängen. Von Solidarität, Risiko-Verteilung, Unterstützung kein Wort.
Absolut enttäuscht hat mich das Fazit, wir bräuchten einfach mehr Unternehmer. Darf ich brandeins bitte auch als Angestellter lesen?